Von Martin Droste
Attendorn. Aus dem „jungen Rebellen“ Jürgen Meise, der 1975 mit dem späteren Bürgermeister Alfons Stumpf für die SPD in den Rat der Stadt Attendorn einzog, ist längst auch politisch ein Rentner geworden. Nach 34 Jahren als Stadtverordneter, davon 25 Jahre SPD-Fraktionsvorsitzender, verabschiedete sich der gebürtige Münsterländer 2009 in den kommunalpolitischen Ruhestand. Seine Partei, in der er vor mehr als einem halben Jahrhundert eingetreten ist, lässt den ehemaligen Realschullehrer aber nicht los. So ist Meise, der schon 1996 das Jubiläumsheft „100 Jahre SPD in Attendorn“ verfasst hat, wieder als Chronist für den Ortsverein der Sozialdemokratischen Partei Deutschland im Einsatz, der in diesem Jahr sein 125-jähriges Bestehen feiert.
Als Jürgen Meise vor 51 Jahren der Liebe wegen aus Gelsenkirchen nach Attendorn zog, trat der junge Realschullehrer auch gleich in die SPD ein. „Ich dachte, die könnten noch einen gebrauchen“, erinnert sich der im Schwalbenohl wohnende Meise mit einem Augenzwinkern an den Beginn seiner politischen Karriere. Überredet wurde der Pädagoge von seinem Nachbarn Walter Müller, einem angesehenen SPD-Politiker.
Die politischen Verhältnisse im Stadtrat, wo damals nur die CDU und SPD saßen, waren Mitte der 70er-Jahre zementiert. Die Christdemokraten waren mit Abstand die stärkste Partei und Fraktion. So erhielt die CDU bei der Kommunalwahl 1975 genau 63,6 Prozent der Stimmen, auf die SPD entfielen 36,4 Prozent. Das sollte sich erst Jahre später ändern. „Die CDU hat in Attendorn immer noch eine strukturelle Mehrheit“, verweist Jürgen Meise auf die Ergebnisse bei Landtags- und Bundestagswahlen. „Die Attendorner SPD ist eigentlich eine Kommunalpartei“, betont der langjährige Fraktionsvorsitzende. Wie der 77-Jährige selbst („Ich bin passives Mitglied in allen Großvereinen“) sind Sozialdemokraten stark in den örtlichen Vereinen vertreten.
Allerdings gab es da zum Teil erhebliche Vorbehalte. Als der Jungsozialist Heinz Günther Bock 1971 in Kolpingsfamilie zum sogenannten Senior gewählt wurde, stieß das bei älteren Mitgliedern auf massive Kritik, nach dem Motto: „Ein Sozialdemokrat als Senior! Das geht gar nicht“. Zwar waren die Zeiten längst vorbei, als es hieß: „Sozialdemokratie und Christentum stehen sich feindlich gegenüber“. Aber so ganz lange war es noch nicht her, dass die Gläubigen an Wahlsonntagen von der Kanzel aufgefordert wurden, eine christliche Partei zu wählen – natürlich die CDU.
Der Paderborner Weihbischof Nordhues soll in den 1970er-Jahren bei einem Besuch in Neu-Listernohl dem SPD-Politiker Orland Pfeiffer geraten haben, sich zwischen Pfarrgemeinderat und Partei zu entscheiden. Vor allem der streitbare katholische Pfarrer und Dechant Johannes Klinkhammer war für die Sozialdemokraten eine Reizfigur. Die Giftpfeile flogen hin und her. Der spätere Bürgermeister und damalige Jungsozialist Alfons Stumpf antwortete 1976 auf eine erneute Provokation von Klinkhammer mit einem „Gegenpfarrbrief“.
Später entspannte sich das Verhältnis der SPD zum Pastor mit dem Spitznamen „Don Camillo“ und zur katholischen Kirche. SPD-Politiker wie Werner Huckestein (Lichtringhausen), Hans-Walter Neu (Listerscheid) oder der heutige Bürgermeister Christian Pospischil (Ennest) engagierten sich in den örtlichen Pfarrgemeinderäten.
Kommunalpolitisch brach nach der Wahl 1994 eine neue Zeitrechnung an. Die CDU hatte ihre absolute Mehrheit verloren, mit den Stimmen von SPD und UWG wurde Alfons Stumpf zum damals noch ehrenamtlichen Bürgermeister gewählt. „Von dem Moment an, als die CDU-Mehrheit gebrochen war, wurde die Politik nicht mehr allein zwischen der Verwaltung und der CDU ausgekungelt“, sagt Jürgen Meise.
Die Realpolitik der Attendorner SPD war eines der Erfolgsrezepte bei den Wahlen. Das Verhältnis zur katholischen Kirche – Stichpunkte „Schulstreit“ und „Jugendzentrum“ – hatte sich entspannt. Die Leistung und Bedeutung der Attendorner Familienbetriebe wurde anerkannt. Bei der Stadtkernsanierung konnte zusammen mit dem von Unternehmer Walter Viegener sen. geleiteten Bürgerbeirat manche Bausünde verhindert werden.
„Wir haben uns damals vorgenommen, nicht auf Vorlagen der Verwaltung zu warten, sondern eigene Vorschläge zu entwickeln“, berichtet Jürgen Meise über die Anfänge seiner kommunalpolitischen Arbeit und nennt als Beispiel die SPD-Konzepte zur Verkehrsführung. Dazu gehörten der Durchbau der Hansastraße, die Umleitung des Schwerlastverkehrs am Stadtkern vorbei, der Bau der Parkpalette Feuerteich oder die Verhinderung der Pläne, den Verkehr über die Wälle und Promenaden abzuleiten. Das der Verkehr nicht auf die Wälle verlegt wurde, ist neben dem Einsatz der SPD auch der CDU zu verdanken.
In seinem Schlusswort blickt Autor Jürgen Meise so auf die Geschichte des SPD-Ortsvereins Attendorn zurück: „Auch die Mehrheit der Bevölkerung hat sich in den letzten 125 Jahren geändert. Sie sehen in den „Sozis“ nicht mehr die „vaterlandslosen Gesellen“, wie es die kaiserliche Gesellschaft noch hielt. Auch nicht mehr die Schuldigen an der Niederlage des Ersten Weltkriegs und am Versailler Friedensvertrag … Auch „gottlose Gesellen“ nicht mehr, wie viele der Sozialdemokraten bis in die 1980er-Jahre hinein nannten. Heute allerdings sind die Attendorner Genossen und Genossinnen in der Kernstadt und in den Dörfern mitten in der Gesellschaft angekommen.“
Denn wer hätte vor vielen Jahren gedacht, dass sich im tiefschwarzen Windhausen oder Helden/Niederhelden mit Kevin Risch und Günter Schulte sozialdemokratische Kandidaten souverän durchsetzen würden. „Als ich angefangen habe, in Attendorn für die SPD Politik zu machen, hätte ich auch nicht geglaubt, dass wir mal einen Bürgermeister stellen“, gibt Jürgen Meise zu.
Seinen Wahlbezirk im Schwalbenohl hat Meise immer direkt gewonnen. Noch heute wohnt das SPD-Urgestein in der Danziger Straße – und nicht in der nahen Meisenstraße, wie immer mal wieder kolportiert wird. Aus dem Rat der Stadt Attendorn hat sich der langjährige Fraktionsvorsitzende 2009 verabschiedet, um „guten, jungen Leuten“ Platz zu machen. Aus der Kommunalpolitik hat sich Meise seitdem herausgehalten, auch wenn er sich „manchmal geärgert hat“.
In seiner Chronik verschweigt Jürgen Meise nicht Fehleinschätzungen, Misserfolge oder Streitigkeiten des SPD-Ortsvereins. Ältere Sozis werden sich noch an die auch persönlich geführten Grabenkämpfe in den 1970er-Jahren erinnern, die mit dem Namen Karl-Heinz Klosner verbunden sind. Der rhetorisch beschlagene und taktisch gewiefte Lehrer am Rivius-Gymnasium war der Auslöser für eine Zerreißprobe innerhalb der Attendorner SPD, die mit der Gründung einer „Unabhängigen“-Fraktion im Stadtrat ihren negativen Höhepunkt fand.
Die Gründung des SPD-Ortsvereins vor 125 Jahren am „Heider Baum“ ist für Jürgen Meise auf ein „einmaliges Mikroklima“ zurückzuführen. Durch die Revolution von 1848 war aufklärerisches Gedankengut nach Attendorn gekommen. Die Hansestadt galt schon lange vor 1900 als die Industriestadt im Kreis Olpe, mit proletarischem Potenzial. Und vor allem waren 1896 die richtigen Männer am richtigen Ort.
Warum der Ortsverein unter freiem Himmel gegründet worden ist? Darauf gibt es laut Jürgen Meise zwei Antworten: 1. Kein Attendorner Gastwirt hatte es gewagt, einen Raum zur Verfügung zu stellen. 2. Die Gründer sind bewusst an die frische Luft gegangen, aus Sorge vor der damals üblichen Überwachung durch die Polizei.